Prüfgruppe oder 4-Augen-Prinzip?

Die Prüfung ist ein wichtiger Schritt bei der Leichte-Sprache-Übersetzung und kann entweder durch eine Prüfgruppe oder durch eine:n unabhängige:n Leichte-Sprache-Übersetzer:in durchgeführt werden. Eine Prüfgruppe besteht aus mindestens zwei verschiedenen Vertreter:innen der Zielgruppe.

Für die meisten Prüfsiegel ist die Prüfung durch die Zielgruppe eine wesentliche Bedingung. Aber was ist der Vorteil einer Prüfgruppe? Und gibt es auch Nachteile? Lohnt es sich dann überhaupt, einen Kollegen oder eine Kollegin statt einer Prüfgruppe einzubinden oder ist das überflüssig?

Prüfung durch eine Prüfgruppe

Ein klares Argument für eine Prüfgruppe ist natürlich das Empowerment. Durch das Einbeziehen in den Übersetzungsprozess kann die Zielgruppe teilhaben und selbst entscheiden, wie die Texte für sie geschrieben sein sollen. Das ist eine klare Message für die Inklusion.

Außerdem dürfen geprüfte Leichte-Sprache-Übersetzungen mit einem Siegel versehen werden. So können Leser:innen sicher sein, dass dieser Text professionell erstellt wurde. Das Siegel ist ein Qualitätsversprechen und verhindert, dass jeder oder jede eigenständig einen Leichte-Sprache-Text erstellt und online stellt. Leichte Sprache folgt strengen Regeln und es wäre niemandem damit geholfen, wenn ein Text zwar auf den ersten Blick wie Leichte Sprache aussieht, aber nicht verständlich für die Zielgruppe ist.

Zudem bietet die Tätigkeit als Prüfer:in theoretisch eine Möglichkeit einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bekommen und nicht mehr in einer Werkstatt für Behinderte zu arbeiten. Dies ist die wesentliche Aufgabe der Werkstätten, den bei ihnen beschäftigten Mitarbeiter:innen auf den ersten Arbeitsmarkt zu helfen. Allerdings ist dies oft nur Theorie, da die Werkstätten wirtschaftlich arbeiten müssen und deswegen die Mitarbeitenden oft für ihren eigenen Betrieb benötigen.

Mit Ihrer Arbeit  dürfen die Beschäftigten allerdings nur eine bestimmte Summe verdienen, der Rest wird mit Sozialleistungen aufgestockt. Verdienen Sie mehr, erhalten Sie auch weniger Sozialleistungen. Deswegen sehen die Prüfer:innen von Leichte-Sprache-Texten auch meistens nicht viel von dem Geld für die Prüfgruppe. Das geht direkt an die Werkstätten, da Menschen mit Behinderungen anderenfalls weniger Sozialleistungen bekämen. Auch in den Werkstätten arbeiten die Menschen mit Behinderung für einen sehr niedrigen Stundenlohn. Viele machen die Prüfung auch als Hobby nach ihrer eigentlichen Beschäftigung, weil sie gerne mitwirken möchten, aber keine Möglichkeit haben, fair bezahlt zu werden.  

Beim Prüfen findet über die Zeit ein Lerneffekt statt. Wenn Prüfgruppen viele Texte prüfen, lernen sie viel Neues über verschiedenste Inhalte. Das ist natürlich etwas Positives für die Einzelne oder den Einzelnen, allerdings können sie dann irgendwann kein relevantes Feedback mehr geben, da sie überdurchschnittlich gut verstehen im Vergleich zur eigentlichen Zielgruppe des Textes. 

Auch können die Ergebnisse einer Prüfung sehr unterschiedlich ausfallen je nach Grad der Behinderung, Tagesform der Prüfer:innen oder Art der Fragen.

Weiterhin ist das Prüfen durch eine Prüfgruppe ein langsamer und teurer Prozess. Dies schreckt viele von einer Umsetzung ihrer Inhalte in Leichte Sprache ab. Viele Projekte können nicht finanziert werden, wodurch letztlich ein kleineres Angebot in Leichter Sprache vorhanden ist, was wiederum ein Nachteil für die Zielgruppe ist.

Die Adressatenschaft von Leichte-Sprache-Texten ist groß und heterogen. In den Prüfgruppen sind meistens nur einzelne Zielgruppen vertreten, aber nicht alle. Das macht eine klare Aussage zur Verständlichkeit eines Textes nahezu unmöglich. Hier muss man sich auch immer die Frage stellen: Wer ist meine Zielgruppe? Das Prüfsiegel von Inclusion Europe darf z.B. nur verwendet werden, wenn es von Menschen mit geistigen Einschränkungen geprüft wurde.

So oder so ist die zielgruppenspezifische Prüfung eine großartige Möglichkeit, die Zielgruppe einzubeziehen und sollte immer angestrebt werden, wenn Budget und Zeit es zulassen.

Prüfung nach dem Vier-Augen-Prinzip

Beim Vier-Augen-Prinzip wird die Übersetzung von einem unabhängigen Kollegen oder einer unabhängigen Kollegin mit Erfahrung in Leichter Sprache geprüft und kontrolliert.

Dieses Prinzip ist ein gängiges Verfahren in der Übersetzungsbranche als eine Form des Qualitätsmanagement. Denn vier Augen sehen bekannterweise mehr als zwei.

Bei den prüfenden Kolleg:innen handelt sich um Übersetzer:innen mit einem gleichwertigen Abschluss oder Zertifikat und Erfahrung. Sie kennen die Regeln, nach denen übersetzt wird und können die Einhaltung derer überprüfen. Die Regeln zur Textverständlichkeit sind aus vielen verschiedenen Studien entstanden und somit wissenschaftlich fundiert. So ist eine große Wahrscheinlichkeit gegeben, dass die Übersetzung für eine große Bandbreite an Menschen verständlich ist.

Diese Art der Prüfung ist natürlich nicht inklusiv, aber dennoch eine gute Möglichkeit um eine hohe Qualität zu gewährleisten und einen für viele Menschen verständlichen Text bereitzustellen. Zudem kann es günstiger sein als eine Prüfung durch eine Prüfgruppe.

Was denn nun, Prüfgruppe oder Vier-Augen-Prinzip?

Sowohl die Prüfung durch eine Prüfgruppe als auch durch das Vier-Augen-Prinzip sind eine gute Lösung und immer besser als keine Prüfung. Eine andere gute Lösung könnten bestimmte Text-Bausteine für Textstellen, die häufig in verschiedenen Texten auftauchen, und Musterlösungen sein, die einmal von einer Prüfgruppe geprüft werden und dann immer wieder verwendet werden können. So wäre auch die Leichte-Sprache-Welt mit der Zeit etwas homogener und konsistenter.

Auch wissenschaftliche Studien mit Menschen aus der Zielgruppe können Verständlichkeit und Lesbarkeit untermauern und aus den Ergebnissen könnten weitere wissenschaftlich fundierte Regeln für die Erstellung von Leichte-Sprache-Texten aufgestellt werden. Auch das wäre ein wichtiger Baustein auf dem Weg in die inklusive Gesellschaft.


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