Prälinguale Gehörlosigkeit bezeichnet den Zustand, bei dem die Gehörlosigkeit eines Menschen vor dem Erwerb der Lautsprache eintritt. Diese Menschen werden also entweder taub geboren oder verlieren ihr Gehör in den ersten Lebensmonaten. Dadurch stehen sie insbesondere beim Erlernen der Schriftsprache vor einzigartigen Herausforderungen. In diesem Blog-Beitrag werden wir uns eingehend mit den Besonderheiten, Herausforderungen und Lösungsansätzen für die Entwicklung der Schriftsprachkompetenz bei prälingual gehörlosen Menschen beschäftigen.
Die Bedeutung der Schriftsprache
Auch wenn Gebärdensprache für viele gehörlose Menschen die Erstsprache und bevorzugte Art der Kommunikation darstellt, ist die Schriftsprache ein wesentlicher Bestandteil der hörenden Mehrheitsgesellschaft. Sie ermöglicht den Zugang zu Bildung, Information und Kommunikation. Für gehörlose Menschen ist die Beherrschung der Schriftsprache auch deshalb wichtig, da sie noch immer oft die primäre Form der Kommunikation mit hörenden Menschen darstellt. Außerdem sind viele alltägliche Informationen oft nur über Schriftsprache zugänglich.
Herausforderungen bei der Entwicklung der Schriftsprachkompetenz
Beim Erlernen einer Schriftsprache stoßen gehörlose Menschen auf verschiedene Herausforderungen.
Prälingual gehörlose Menschen haben keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang zur Lautsprache. Dies kann den Erwerb der Schriftsprache erheblich erschweren, da die meisten schriftsprachlichen Strukturen auf lautsprachlichen Mustern basieren. Ohne das Hörvermögen fehlt die natürliche Grundlage, um Phoneme, also die bestimmenden Laute einer Sprache, und deren Kombinationen zu erlernen. Dies führt oft zu Schwierigkeiten bei der Phonem-Graphem-Korrespondenz, also der Verknüpfung von Laut und Schriftzeichen, was wiederum die Lese- und Schreibfähigkeiten beeinträchtigt.
Oft fehlt es auch an geeigneten Unterstützungsmaßnahmen und Ressourcen, um gehörlosen Menschen den Erwerb der Schriftsprache zu erleichtern. Dies kann zum Beispiel auf mangelnde Kenntnisse und Erfahrungen von Lehrkräften und fehlende spezielle Förderprogramme zurückzuführen sein. Ohne die notwendige Unterstützung und Ressourcen ist es für gehörlose Menschen schwierig, die erforderlichen schriftsprachlichen Fähigkeiten zu entwickeln.
Unterschiedliche Strukturen von Lautsprache und Gebärdensprache
Der Hauptaspekt für eine eingeschränkte Schriftsprachkompetenz bei prälingual gehörlosen Menschen ist der fehlende Zugang zur Lautsprache, da Lautsprache und Gebärdensprache verschiedene grammatische Strukturen haben. Dieser Unterschied erschwert das Erlernen der jeweiligen Schriftsprache für die Menschen, deren Erstsprache Gebärdensprache ist.
Phonologie vs. visuelle Parameter
Lautsprachen basieren auf phonologischen Einheiten wie Phonemen, Silben und Intonation. Diese Einheiten sind auditiv und werden durch das Gehör wahrgenommen. Im Gegensatz dazu basiert Gebärdensprache auf visuellen Parametern wie Handformen, -bewegungen, -orientierungen und -positionen im Gebärdenraum sowie auf nicht-manuellen Signalen wie Mimik und Körperhaltung. Diese grundlegenden Unterschiede in der Wahrnehmung und Produktion von Sprache können den Erwerb der Schriftsprache für gehörlose Menschen erschweren, da sie keine auditive Referenz haben, um phonologische Strukturen zu verstehen.
Grammatik und Syntax
Die grammatischen Strukturen von Lautsprachen und Gebärdensprachen unterscheiden sich ebenfalls erheblich. Lautsprachen folgen oft einer linearen Syntax, bei der Wörter in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet werden, um Sätze zu bilden. Gebärdensprachen hingegen nutzen den Raum, um grammatische Beziehungen darzustellen. Zeitliche Abläufe, Possessivpronomen und andere grammatische Elemente werden durch räumliche Anordnungen und Bewegungen ausgedrückt. Anders als in Lautsprache können in Gebärdensprache diese Elemente oft simultan ausgeführt werden. Diese unterschiedlichen grammatischen Strukturen können zu Schwierigkeiten führen, wenn gehörlose Menschen versuchen, die Regeln der Schriftsprache zu verstehen und anzuwenden, da sie keine natürliche Verbindung zu den grammatischen Mustern der Lautsprache haben.
Semantik und Pragmatik
Auch in der Semantik und Pragmatik gibt es Unterschiede zwischen Lautsprachen und Gebärdensprachen. Gebärdensprachen nutzen oft ikonische Zeichen, die eine direkte visuelle Beziehung zu ihrem Referenten haben. Dies kann den Wortschatzerwerb erleichtern, da die Bedeutung oft direkt aus der Gebärde abgeleitet werden kann. In Lautsprachen hingegen ist die Beziehung zwischen Wort und Bedeutung oft arbiträr, also zufällig, was den Wortschatzerwerb erschweren kann. Darüber hinaus nutzen Gebärdensprachen den Raum und nicht-manuelle Signale, um pragmatische Informationen wie Betonung, Ironie und Emotionen auszudrücken, was in Schriftsprache durch Satzzeichen und Kontext vermittelt wird. Diese Unterschiede können zu Missverständnissen und Schwierigkeiten beim Verständnis und der Produktion von Schriftsprache führen.
Lösungsansätze und Unterstützungsmöglichkeiten
Frühe Förderung und Intervention
Eine frühe Förderung ist entscheidend für die Entwicklung der Schriftsprachkompetenz bei prälingual gehörlosen Menschen. Studien zeigen, dass Kinder, die frühzeitig Gebärdensprache erwerben, bessere schriftsprachliche Fähigkeiten entwickeln als solche, die keine Gebärdensprache erwerben. Je früher ein Kind also Zugang zu einer vollständigen Sprache hat, desto besser sind seine Chancen, eine solide sprachliche Grundlage zu entwickeln. Frühinterventionsprogramme können dazu beitragen, die sprachlichen Fähigkeiten zu entwickeln und so auch den Zugang zur Schriftsprache zu erleichtern. Dazu gehören:
- Gebärdensprachkurse für Eltern: Eltern sollten ermutigt werden, Gebärdensprache zu lernen, um eine effektive Kommunikation mit ihren Kindern zu ermöglichen.
- Frühförderung durch Fachkräfte: Logopäden, Pädagogen und andere Fachkräfte können gezielte Förderung anbieten, um die sprachlichen Fähigkeiten zu entwickeln.
Bilingualer Unterricht
Ein bilingualer Ansatz, der sowohl Gebärdensprache als auch Schriftsprache integriert, kann besonders effektiv sein. Dieser Ansatz erkennt die Gebärdensprache als vollständige und gleichwertige Sprache an und nutzt sie als Brücke zur Schriftsprache. Bilinguale Programme können in Schulen und Bildungseinrichtungen implementiert werden, um gehörlosen Kindern den Zugang zur Schriftsprache zu erleichtern.
Leichte oder Einfache Sprache
Leichte oder Einfache Sprache können durch die vereinfachten sprachlichen Strukturen nicht nur den Zugang zu Informationen erleichtern, sondern auch eine Möglichkeit darstellen, die Schriftsprachkompetenz zu fördern. Texte in Leichter und Einfacher Sprache haben dann eine Lernfunktion und stellen Zwischenschritte hin zu einer besseren Schriftsprachkompetenz dar.
Individuelle Förderung und Unterstützung
Jeder gehörlose Mensch hat individuelle Bedarfe und Fähigkeiten. Eine individuelle Förderung und Unterstützung ist daher entscheidend. Dies kann durch individuelle Lernpläne, Nachhilfe und spezielle Förderprogramme erreicht werden. Es gibt auch Apps und Softwareprogramme, die entwickelt wurden, um das Erlernen der Schriftsprache zu unterstützen.
Fazit
Eine gute Schriftsprachkompetenz erleichtert das Leben in der hörenden Mehrheitsgesellschaft für gehörlose Menschen. Die Entwicklung der Schriftsprachkompetenz bei prälingual gehörlosen Menschen ist zwar – wie immer im zweitsprachlichen Lernen – eine komplexe Aufgabe, jedoch können gehörlose Menschen zum Beispiel durch frühe Förderung und bilingualen Unterricht gut unterstützt werden. Für eine umfassende Teilhabe, gerade wenn es keine Angebote in Gebärdensprache gibt, ist es wichtig, die einzigartigen Bedarfe und Fähigkeiten gehörloser Menschen zu erkennen und ihnen die notwendigen Ressourcen und Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, um ihre schriftsprachlichen Fähigkeiten zu entwickeln und zu stärken.